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Gelesen: Leere Herzen von Juli Zeh

Was macht man mit einem Typen, den man bei der täglichen Laufrunde deprimiert an einer Brücke stehen sieht? Ganz klar: Man bittet ihn irgendwann, endlich zu springen. Alternativ gründet man mit ihm eine Heilpraxis, in der die Kunden entweder von ihren Suizidgedanken befreit oder an Terrororganisationen vermittelt werden, damit das große Ende wenigstens für einen guten Zweck zur Geltung kommt.

Das ist doch mal eine edle Geschäftsidee.

»Wir sind’s keine Terroristen, wir sind Dienstleister«, bringt es Babak – der Mann von der Brücke – einmal prägnant auf den Punkt.

Irgendwann geht natürlich trotzdem etwas schief. Es sieht ganz so aus, als ob plötzlich Konkurrenz im Geschäft mitmischt. So geht doch das nicht. Britta – die Läuferin – und Babak sind in der Ruhe ihres ansonsten so geordnet verlaufenden Arbeitsalltags gestört. Alles wird ein wenig nervöser als üblich.

Babak bringt sein Suizid-Kandidaten-Analyse-KI-System in Sicherheit, Britta sorgt sich um ihre Familie. Beide werden von Jägern zu Gejagten. Und wieder zurück. Im ganzen Chaos bekommt sogar eine Kundin ihrer Praxis eine aktive und mitbestimmende Rolle. Die Gegenspieler bleiben im Dunklen. Im Hintergrund nimm der Populismus in der Politik immer mehr Fahrt auf.

Das hat Tempo. Das ist spannend. Das wirft sowohl Fragen des ganz privaten Miteinanders als auch des großen gesellschaftspolitischen Rahmens auf. Bei aller Dramatik (Terrorismus!) macht die Geschichte richtig Spaß.

Die Auflösung kommt dann mit weniger Krawall, als man es zwischendurch erwarten könnte. Es schwingt ein wenig der moralische Zeigefinger mit. Macht aber nichts. Juli Zeh erzählt toll, die Charaktere überzeugen und zumindest die Protagonistin entwickelt sich auch. Leere Herzen, volle Empfehlung.

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Der gemeine Kalauer als Evolutionsstufe

Seit einer Weile geht der Sohn zu Schule. Und es macht sich bezahlt. Man merkt quasi täglich glasklare Leistungsschübe. Wann kann man eigentlich jemals wieder so viel lernen wie in jungen Schuljahren? Es ist faszinierend.

So kam der Sohn zum Beispiel vor kurzem mit kleinen, rhetorischen Frage-Kalauern nach Hause.

Was läuft über den Rasen und brennt?

– Es ist ein Kaminchen.

Das ist super. Das ist großartig, sehr großartig sogar. Wir sind endlich angekommen in der Welt der Wortwitze. Große Zeiten stehen uns bevor.

Was sitzt hinter Gittern und ist braun?

– Eine Knastanie.

Wie sollte der Nachwuchs besser den korrekten Umgang mit Sprache erlernen, ach was, perfektionieren? Hier gibt es einen sicheren Weg hin zu dem richtigen Respekt vor der Sprache: dem fehlenden. Sprache ist ein simples Werkzeug, ein Gebrauchsgegenstand des Alltags. Und faszinierenderweise ist sie ein solcher, der sich durch häufigeres Benutzen nicht abnutzt sondern der eher hinzugewinnt und immer schöner wird. Und sei es durch eben diese Kalauer, welche sie in der Schule spontan als Pausenscherze erfinden und gleich in die Welt hinaustragen.

Was ist weiß und rollt den Berg hoch?

– Eine Schneelawine mit Heimweh

Es ist wirklich ein Traum. Und es ist natürlich einer, bei dem ich fortwährend zwischen großem Respekt und fast schon verzweifeltem Kopfschütteln hin- und herwechsele.

Passenderweise hat der Herr Nachwuchs jetzt zu Weihnachten das Buch mit den 500 besten Kinderwitzen bekommen. So werden die Ferien glatt zu einem Bildungsurlaub. Ich sehe sehr rosigen Zeiten entgegen.

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Die Neuentdeckung des Archimedischen Prinzips

Es ist Sommer. Da sind viele Sachen etwas einfacher. Oder zumindest verhalten sie sich anders als im eher kalten Teil des Jahres. So laufen die Kinder zum Beispiel viel mehr draußen herum. Sie spielen im Hof, treffen sich mit den Nachbarskindern, amüsieren sich. So soll das sein. So gehört sich das. Und so sehen sie meistens auch aus. Es ist fast schon egal, aus welchem Grund sie nach Hause kommen, warum sie zufällig gerade in die Wohnung möchten und nicht weiter draußen bleiben. Eines gilt tatsächlich immer: sie müssen sich wenigstens die Hände waschen. Je nach Reinheitsgrad ist auch mehr fällig. Aber für die Hände gilt auf jeden Fall: so, wie sie aussehen, geht’s nicht. Sie brauchen Wasser, dann ist alles gleich viel klarer.

Und da Sommer ist, nehmen die Kinder es pragmatisch. Sie lassen einfach Wasser in eine Gießkanne und waschen sich die Hände darin. Das klappt sogar erstaunlich gut. Nur selten sehen die Kinder nach dem Händewaschen schlimmer aus als vorher. Und wenn man genau hinschaut, sieht man auch, warum dem so ist. Denn sie lassen das Wasser zwar selbst in die Gießkanne, füllen diese aber nicht ganz bis zum Rand. Das ist gut. Das ist vernünftig. Das hätte ich gar nicht erwartet. Also frage ich, wie sie darauf kommen, warum sie das so machen.

Während die Tochter einfach weiter ihre Hände im Wasser badet, macht der Sohn eine Pause, guckt mich mit großen Augen an, holt tief Luft und erklärt, dass das doch wohl ganz klar sei: Wo Hände sind, kann kein Wasser sein. Irgendwo müsse das schließlich hin. Es sucht sich dann seinen Weg und kommt zack, raus aus der Kanne und macht eine Sauerei. Das wollen wir doch wohl nicht, oder?

Nein, das wollen wir nicht. Und ich staune, warum auch immer der alte Archimedes sich damals ganz in seine Wanne setzen musste, um zur gleichen Erkenntnis zu kommen. Hände zu waschen hätte auch gereicht.

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Vorschülerei

Woran merkt man eigentlich, dass die Zeit nur so dahin fliegt und die Kinder immer größer werden? Zum Beispiel daran, dass auf einmal ein Vorschüler mit im Haus wohnt.

Dieser sitzt dann ganz unschuldig am Tisch, zählt erst die vorhandenen Stückchen Kuchen vor sich durch und anschließend die Personen um sich herum. Er stellt fest: 6 Stück Kuchen, 4 Personen. Der Sohn fängt an zu rechnen. Jeder bekommt erst mal ein Stück ab. Danach wird es kompliziert. Mama und Tochter könnten jeweils noch ein Stück bekommen. Oder Papa und Sohn. Oder die beiden Kinder. Aber sicher nicht nur die Eltern, oder? Nein, das wäre ungerecht. Aber durchschneiden könnten wir die beiden Stückchen. Dann hat doch jeder etwas davon. Das wäre doch toll. Und während er so theoretisiert und erzählt, bringt sich der Vorschüler des Hauses schon mal en passant selbst die Bruchrechnung bei.

Was nicht heißt, dass er den kreativen Künsten abgeschworen hat. Natürlich macht er, was Kinder in dem Alter oft so tun. Er malt zum Beispiel. Viel. Von diesem Fleiß können wir Erwachsenen uns viel abschauen. Da ist noch Leidenschaft am Werk. Und doch ist eine gewisse Effizienz zu erkennen. Malt der Sohn zum Beispiel einen Teich, in dem zwei große Fische auf den Besuch des Reihers warten, so sind die Fische der komplizierte Teil. Sie brauchen nicht nur Kopf und Körper. Es gehören auch diverse Flossen, Schuppen und Kiemen dazu. Das ist nicht leicht. Braucht man zwei Exemplare von der Sorte, muss man sehen, wo man bleibt. Da kann es passieren, dass der interessierte Betrachter am Ende nur einen Fisch auf dem Bild erkennt. Es sind in Wahrheit natürlich trotzdem zwei. Und damit das auch den Uninspiriertesten verständlich wird, schreibt der Sohn eine große “2” oben drauf. Mitten auf den Fisch. Alles klar, oder?

Ein Vorschüler wohnt im Haus. Man sieht es ganz deutlich. Auch wenn es irgendwie nicht immer ganz leicht ist.

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Wichtige Entscheidungen

Es gibt Tage, die sind lang. Viel länger als andere. Zumindest gefühlt ist das so. Da war es wohl sehr anstrengend, was den ganzen Tag über so passiert ist. Ermüdend, quasi. Und so sitzt die Familie am Tisch mit dem Abendmahl und alle gucken sich eher ruhig, recht träge und mit glasigen Blicken an.

Wirklich alle? Nun, ein kleiner Mann leistet Widerstand gegen den allgemeinen Trend. Der Sohn hat in einem Wahn von vorausahnender Cleverness als einziger im Haus einen ausgiebigen Mittagsschlaf gehalten. Er ist topfit, putzmunter, gut drauf und voller Tatendrang. Das ist zwar anstrengend, muss aber selbstverständlich sofort gnadenlos ausgenutzt werden. Wir planen gleich mal das tägliche Ritual des ins-Bett-Gehens neu. Wir schlagen dem Sohn vor, dass er es ist, der heute alle ins Bett bringt. Schwester, Papa, Mama – am besten in genau der Reihenfolge. Er guckt erst einmal skeptisch. Wer weiß schon, was die Eltern da erzählen? Und nachher meinen sie es vielleicht doch nicht ernst. Unmöglich, so ein müder Familienclan. Unberechenbar, das Volk. Man sieht’s dem Sohn an: Er wartet erst einmal ab. Ich ringe mir ein paar motivierende Worte ab: Das ist nicht weiter schlimm, mein Sohn. Zähne putzen wir uns selbst. Du musst am Ende nur ein Buch vorlesen, das war es dann schon fast. Die Mama sucht eins aus, holt es Dir aus dem Bücherwagen und Du liest es dann vor. Das reicht. Und zack: alle schlafen.

Er guckt mich an, legt sein Essen erstmal ab und lehnt sich in seinem Stuhl zurück. Ob das Entspannung ist, kann ich gar nicht sagen. Eher scheint er zu überlegen. Soll er ruhig. Wir essen einfach weiter. Plötzlich guckt er ganz freudig. Lehnt sich leicht zur Dame des Hauses herüber und flüstert: Mama?Ja, mein Schatz?, antwortet sie. Mama, Du suchst Dir am besten ‚Stop für Willi‘ aus, ja? Das ist ein recht unterhaltsames Buch, wenn auch relativ viel Tempo in der Geschichte liegt, so ganz optimal zur Nacht ist es nicht, es geht um Autos, Züge, Fahrräder, es geht um Tempo, Fußball, Unfälle gar. Ein schönes Buch, keine Frage, aber zum Einschlafen? Mama, das ist doch mein einziges Buch, in dem überhaupt gar kein Text drin steht. Das kann ich Dir vorlesen, ja? Ja!, sagt der Sohn grinsend, nickt noch einmal, um sich selbst zuzustimmen und lässt in seinem Blick klar erkennen, dass die Entscheidung für die Nachtlektüre gefallen ist. Die Mama wird nachher auf jeden Fall das Richtige tun.

Und nach einem langen, vielleicht sogar anstrengenden Tag haben wir sogar noch etwas gelernt: Wichtige Entscheidungen sehen immer nur aus, als würden sie spontan gefällt. Tatsächlich sind sie gut vorbereitet und mit allen Beteiligten im Vorfeld sorgfältig abgestimmt. Der Sohn hat das schon ganz intuitiv drauf. Wenn’s bei den Großen mal auch immer so gut klappen würde. Selbst an ganz normalen Tagen.


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