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Corpus Delicti von Juli Zeh

Cover von Corpus Delicti von Juli Zeh Es gibt derzeit so einen gewissen Hype um deutschsprachige Frauen, die nicht nur schreiben, sondern offenbar auch noch als jung genug gelten, um damit aufzufallen. Judith Hermann, Nora Bossong, Juli Zeh. Alle toll. Findet auch der Sohn und hat mir neulich Juli Zehs Corpus Delicti vor die Füße geworfen.

Es ist natürlich ein Justizroman. Und natürlich einer, in dem Drogen eine Rolle spielen. Eine ganz beiläufige, versteht sich. Denn hauptsächlich geht es um etwas ganz anderes. Es geht um einen Prozess, dem die Protagonistin sich stellen darf. Worüber sie nicht nur glücklich ist:

»Niemand«, sagt Mia, »kann nachvollziehen, was ich durchmache. Nicht einmal ich selbst. Wäre ich ein Hund – ich würde mich ankläffen, damit ich nicht näher komme.«

Worum es geht? Um nichts geringeres als eine Gesellschaftskritik verpackt in einen Roman. In dem der Protagonistin, Mia, der Prozess gemacht wird. Da sie nicht mehr mitspielt. In einer Gesellschaft, in der das Mitspielen zum Prinzip und das Funktionieren zum obersten Gebot erkoren ist. Das bisher eher als beiläufig angesehene Gut der Gesundheit wird zum Maß aller Dinge. Dieses nicht anzustreben wird zum Verbrechen. Jemand, der so handelt, zum Terroristen. Dem der Prozess gemacht gehört. Und sei es letztendlich nur ein Stellvertreterprozess, weil man diesen Prozess Mias Bruder, Moritz, nicht mehr machen kann. Wofür er selbst gesorgt hat:

»Das Leben«, sagt Moritz leise, »ist ein Angebot, das man auch ablehnen kann.«

Und ein Buch ist ein Angebot, das man auch weglegen kann. Muss man in diesem Fall aber gar nicht. Zumindest nicht, bevor man es gelesen hat. Hype hin oder her. Und wer unbedingt meint, dass Gesellschaftskritik nicht in einen Roman gehört sondern Thema für ein Sachbuch ist, der kann sich ja das neueste Werk aus dem Hause Zeh holen: Angriff auf die Freiheit. Verfasst zusammen mit dem Reiseliteraten Ilija Trojanow.

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Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution von Bora Cosic, aus dem Serbischen übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann

Was passiert, wenn man eine Familie von Hauptdarstellern in einem Zimmer unterbringt, das Zimmer nach Belgrad steckt, in die vierziger Jahre des letzten Jahrhunderts und über den gesamten Kosmos, der dieses Zimmer streift, vom Kind der Familie erzählen lässt? Beispielsweise das hier:

Die rotbackige Genossin in Stiefeln wischte sich mit dem Handrücken die Nase ab und rief aus: »Wir werden für Brüderlichkeit unter den Menschen, dem Viehzeug und der übrigen Menschheit kämpfen, ausschließlich mit Mitteln der Überzeugung!« Die Tanten erklärten: »Wir sind bereit, auch dreißig Mitglieder der Befreiungsbrigade bei uns übernachten zu lassen!« Opa sagte sofort: »Das würde euch so passen!« Sieh fuhren fort: »Aber Affen können wir nicht aufnehmen, wegen der naturgegebenen weiblichen Angst und weil ein Kind im Haus ist!« Mama sagte: »Und ich werde verrückt, wenn es zu solchen Konsequenzen kommen sollte!« Genosse Abas tröstete sie: »Macht nichts, wir werden auch die Verrückten zu Menschen machen und sie nicht mehr fesseln und in kaltes Wasser werfen wie in der Vorkriegszeit!« Opa sagte: »Ihr müßt es ja am besten wissen!« Genosse Abas bestätigte: »Richtig!«

Weniger komprimiert ist das Buch an praktisch keiner Stelle. Dafür kommt es in kompakten 110 Seiten daher. Diese sind manchmal etwas bitte, dafür aber auch humorvoll genug verpackt, um verdaulich zu bleiben.

In das Regal kam das Buch übrigens auf Empfehlung von Herrn Merlix. Herausgeholt hat es der Sohn, versteht sich.

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Heimweg von Harald Martenstein

Hier haben wir doch wieder einen Roman. Ganz anders als beim Steffen Möller neulich. Noch ist es zwar kein Klassiker, aber dafür ist der Autor durch seine Kolumnen bekannt geworden, immerhin, auf eine Art recht ähnlich zum Herrn Möller.

Worum es geht? Um einen Kriegsheimkehrer. Und seine Frau. Und ihre Verehrer. Und ihre Schwester. Und deren Rotlichtkneipe. Und ihren Mann. Und um viele Gäste. Und um einen Enkel. Um das Wahre und um das nur bedingt Wahre. Und etwas Wahnsinn. Und hier ist ein Auszug:

Sie versuchte, Worte zu finden, die Fritz um den Hals fassten und dann langsam zudrückten, Worte, die ihm Säure in die Augen schütten, Worte, die seine Knochen zerschmettern und ihm lebendig die Haut abziehen. Sie schrie, um ihm die Worte wie mit einem Hammer in sein Gehirn hineinzuschlagen, schrie, damit die Worte ihn wie ein Sturm umwerfen, ihn unter Wasser drücken, ihn mitsamt seinen Wurzeln ausreißen oder ihn in blutige Fetzen zerreißen. Nichts sollte bleiben von ihm, nicht einmal Staub.

Was soll ich noch sagen? Es ist einfach ein wunderbarer Familien-Roman.

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Novecento von Alessandro Baricco

Kleine Bücher sind etwas für den kleinen Mann. Das könnte man zumindest meinen, wenn man dieses Exemplar aus der Reihe Books to go vor sich hat. Knapp 90 Seiten in kleinem Format mit verhältnismäßig großer Schrift. Das ist greifbar.

Und lesbar:

Jelly Roll machte ein Gesicht, als hätten sie ihm die Weihnachtsgeschenke geklaut. Er blitzte Novecento aus zwei Wolfsaugen an und setzte sich wieder ans Klavier. Er legte einen Blues hin, der selbst einen deutschen Maschinisten zu Tränen gerührt hätte, es klang, als wäre die gesamte Baumwolle sämtlicher Schwarzer der Welt darin enthalten und als würde er sie mit diesen Tönen ernten.

Eine Frage liegt jetzt nahe: Was macht man mit einem to go-Buch, wenn es ausgelesen ist und man wieder bequem auf der Couch sitzt? Das gleiche wie mit einem to go-Heißgetränkpappbecher, also: wegwerfen?

Der Sohn meint, das sei eine ganz hervorragende Möglichkeit und er übt das mit dem Werfen schon einmal vorsorglich sehr gründlich.

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Viva Polonia von Steffen Möller

Teil zwei unserer kleinen Serie über Bücher, die der Sohn zwar zum Lesen aus dem Regal holt, die er eigentlich aber gar nicht anfassen soll, ist gar kein Buch aus toten Bäumen, sondern eins aus kleinen elektronischen Dingen, die klingen. Ein Hörbuch also. Was für ein fulminanter Start. Aber immerhin gibt’s das Werk auch gedruckt.

Das Buch besteht nicht nur aus einer einzigen sondern aus ganz vielen Geschichten. Und diese passen auf ihre Art hervorragend zum kleinen Mann. Nicht, weil er bereits ein Polenkenner ist. Ist er nämlich nicht. War noch nie dort. Sondern weil die Geschichten ebenfalls klein sind. Und so Schritt für Schritt aus kleinen Männern kleine Polenkenner machen.

Wenn man dem Herrn Steffen zuhört, scheint das auch eine richtig feine Sache zu sein, das mit dem Polen und dem Kennenlernen. So sieht Begeisterung aus. Begeisterung für Herzlichkeit, Überlandbusfahrten, Weichselaphroditen und das Reparieren quietschender Türen mit Butter. Alles drin. Alles dran. Alles polnisch. Alles kolumnig gut erzählt.

Trotzdem, oder sogar genau deswegen, hat mich das Buch in dem Gefühl bestärkt, dass ein beachtlicher Teil der lebenden deutschsprachigen Literaturwelt sich im Metier der kurzen Texte wohl zu fühlen scheint. Es muss zwar nicht immer gleich Twitter-Lyrik sein, aber der klassische Roman wird vielleicht langsam genau das: ein Klassiker.