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Der Ganztag, dieses neumodische Ding

Unter uns Schreibtischtätern hat es sich in letzter Zeit eingebürgert, das sehr feine, hochwertige, ehrenwerte und hart erkämpfte Recht auf demokratische Mitbestimmung durch das Ankreuzen des korrekten Feldes in Online-Petitionen nicht nur wahrzunehmen, sondern bis an sein maximal mögliches Limit zu treiben. Das ist natürlich etwas ganz Feines. Denn mal ganz ehrlich: In der Vielzahl der Themen, Probleme und Dramen, die tagtäglich auf uns einprasseln ist allein die pure Meinungsäußerung manchmal schon das meistmöglich Machbare. Und es geht durchaus oft um verständliche Sorgen. Erinnern wir uns zum Beispiel an das Hebammendrama. Das ging hier im Haus damals zwar noch gut aus und die Tochter ist ganz wundervoll zur Welt gekommen. Aber das Thema kommt leider .

Erinnern wir uns aber auch an die unsägliche Stoppschildidee zum Sperren des Zugangs zu unliebsamen Webseiten, anstatt diese einfach löschen zu lassen. Was sogar funktioniert. Manche staunen. Und war es nicht auch eine Petition, die ein wenig mit an der Vernunftsschraube gedreht hat? Auf jeden Fall war es bei der ganz themenverwandten Vorratsdatenspeicherung so. Und bei vielen anderen. So einige davon waren und sind sehr sinnvoll, manche zugegebenermaßen eher nicht so.

Jetzt gibt es auf jeden Fall eine neue. Es ist eine Petition gegen verpflichtende Ganztagesschulen. Sie ist natürlich wohlbegründet und sicherlich sehr gut gemeint. Geht es doch um nichts anderes, als die Nachmittagsgestaltung für unsere Schüler möglichst flexibel zu belassen. So, wie sie aktuell ist. Oder besser: so, wie sie es vor kurzem noch war. So, wie wir es kennen. Mit einem Elternteil zu Hause, der sich dann kümmern und Fahrdienst spielen kann. Mit vielen kleinen, unabhängigen Sportvereinen, Theatergruppen, Chören, Musikschulen und freien Musiklehrern. Das ist Vielfalt. Das ist toll. Das kann man durchaus für bewahrenswert halten. Sei es als Eltern, sei es als jene, die diese Angebote schaffen. Eine Ganztagesschule nimmt hier einiges vom Spielraum. Sie bündelt die Aktivitäten an der Schule. Die in der Gegend verteilte Vielfalt hat es damit schwer. Ein Kind, das in der Schule Sport treibt oder musiziert, lässt sich nicht gleichzeitig von den Eltern an entferntere Orte fahren, um das gleiche zu tun.

Die Sorge um den so fehlenden Nachwuchs ist zu verstehen.

Aber die Zeit schreitet trotzdem voran. Das Leben geht weiter. Die Sitten ändern sich. Das ist nichts Neues. Wenn wir genau hingucken, war das schon immer so. Nur wenige laufen heute noch nackt mit der Keule durch den Busch, um sich ihr Frühstück zu jagen. Nein, nein. Andere Zeiten, andere Lebensumstände. Und derzeit haben wir wieder die Möglichkeit, dass auch Eltern sich recht frei entfalten können. Dazu gehört zum Beispiel, jeweils eigenen Tätigkeiten nachzugehen. Und dazu gehört, die Kinder in Ganztageskitas und -schulen mit ihren Freunden eine möglichst interessante und anregende Zeit verbringen zu lassen.

Zwei Kitas habe ich hier in den Südstaaten in letzter Zeit persönlich erlebt. In einer davon ist ein größerer lokaler Musiklehrerverband aktiv und bietet seine Kurse an. Für diese Kurse kommen die Lehrer direkt in die Kita, versteht sich. Dafür muss kein Kind extra durch die Gegend fahren. In einem Moment toben die Kinder draußen im Garten, im nächsten Moment musizieren sie drinnen und nur wenig später toben sie weiter. Das passt. In der anderen Kita ist eine selbständige Musiklehrerin aktiv. Auch sie bietet ihren Kurs an. Auch sie macht es direkt in der Kita. Spielen, musizieren, weiterspielen. Passt.

Ich kann das Konzept der Ganztagesbetreuung nur empfehlen. Den Kindern macht es Spaß. Wir Eltern haben trotzdem unsere Freude mit dem Nachwuchs. Nur eben weniger beim Pendeln zwischen diversen Freizeitaktivitäten und mehr beim Spielen und Lernen im ganz eigenen Umfeld. Andere sehen das anders, ganz klar. Ich habe da volles Verständnis für. Für jene gibt es jetzt z.B. diese Petition. Aber Vereine und andere Anbieter von Alltagsfreizeiten sollten vielleicht trotzdem überlegen, ob ein Gespräch mit den örtlichen Kitas und Schulen nicht ein gutes sein könnte. Denn der Nachwuchs der kommenden Jahre, er steckt genau dort. Der Blognachbar Herr Buddenbohm hat es kürzlich recht prägnant auf den Punkt gebracht:

Die Vereine, die Sportarten, die Freizeitbeschäftigungen, sie müssen alle, alle in die Schulen, sie müssen in den Ganztag, es geht sonst einfach nicht.

Es geht sonst einfach nicht. Ganz genau. Eine Petition wird daran wenig ändern.

9 Antworten auf „Der Ganztag, dieses neumodische Ding“

Naja, das ist schon eine gute Idee. Allein, es beleuchtet nur einen Teil der Problematik. Es gibt eben Eltern, die einfach weiterhin die Wahl haben wollen, ob ihr Kind den ganzen Tag in der Schule sein MUSS oder nicht. Vielleicht wollen diese Eltern ganz einfach eben KEINE Überfrachtung der Freizeit mit Musik, Sport u. Kunst. Sondern, dass sich die Kinder auch mal geflissentlich langweilen, um selbst und OHNE Anleitung und Dauerfeuer (Spiel-)Ideen zu entwickeln. Und lernen, eine Zeit lang ohne Anweisungen sprich selbständig zu ‚funktionieren‘. Abgesehen davon entsteht ein gutes Ganztagsangebot oft nur unter viel Einsatz persönlicher Zeit (=unbezahlt) der Organisatoren (=Idealisten). Es wird politisch als die Lösung schlechthin angepriesen, aber es werden viel zu wenig finanzielle Mittel bereit gestellt, so dass oft nur halbgare Programme entstehen (können) . Das ist das eigentliche Problem. Aber auch wieder ein anderes Thema.

Danke Katja. Die Pflicht zum Ganztag ist natürlich ein valider Punkt, den ich hier ein wenig außen vor gelassen habe.

Bei der Entlohnung der Tätigkeiten stelle ich hier jedoch fest, dass z.B. die Elternbeiträge für in die Kita integrierte Kurse nicht direkt auf ehrenamtliche Tätigkeiten schließen lassen.

…oh, nur mal so: auch in der „Ganztagsbetreuung“ können sich die Kinder langweilen… nur haben sie gelegentlich auch andere Angebote. Leider zumeist eben nicht immer die passenden für jedes Alter. Und bei den Älteren kann man noch so Fahrdienst spielen wollen: die Schule mit nachmittagsunterricht macht manchem Freizeitsport einen dicken Strich durch die Rechnung, besonders, wenn die Kinder eh schon zur Schule pendeln müssen mit öffentlichen verkehrsmitteln. da ist das ersehnte 2x die Woche Training beispielsweise kaum drin. Ganz abgesehen davon, das es zu wenig „Spaß“- und zu viele „Ergeiz“-Angebote gibt, die nicht vom Elternhaus organisiert werden können.
Ansonsten: solange wir keine einheitlichen Regelugnen haben, wird sich immer eine Kluft auftun: zwischen Stadt und Land, zwischen teilzeit und Alleinerziehend-Elternteilen etc.

Die Externen, die in die Schule kommen werden bezahlt, das meine ich nicht. Die Lehrer, die es organisieren, tun dies aber oft ohne Entlastungsstunden = unbezahlt.

Die Vorteile mit der direkten Integration in den Kinderalltag sind schon enorm. Aber es gibt definitiv auch Nachteile. Durch die grössere Distanz der Eltern zu den Angeboten fallen Probleme deutlich später und meist auch erst bei grossem Ausmaß auf.

In weiter Nachteil ist, das den Kindern noch ein Teil Verantwortung abgenommen wird. Gerade in (Grund-)Schulalter können Kinder auch schon in Gruppen selbstständig zum örtlichen Sportverein fahren..

@Max Ach, mir reicht es schon an Selbstständigkeit, wenn der Nachwuchs allein zur Schule und zurück kommt. Ich bin da recht bescheiden.

(Und vorsichtig in meinen Erinnerungen kramend stelle ich fest, das ich mit dem Fußball der anderen damals wenig anfangen konnte. Ihnen ging es mit meinem Schach und Judo jedoch meist ganz ähnlich. Da wären Gruppenreisen, nun ja, eher schwierig geworden.)

Jetzt muss ich hier doch kommentieren. Zunächst noch einmal Danke für Deinen Post, Rolando! Er möchte vermitteln und zeigt Verständnis für beide Haltungen, und das finde ich schön.

Über die Petition ärgere ich mich dagegen schwarz. Wir sind von einer flächendeckenden Einführung der „verpflichtenden“ Ganztagsschule in etwa so weit weg wie von einem Weltraumaufzug in Europa. Evtl. sogar noch um einiges weiter. In Heidelberg gibt es derzeit eine (eine!) verlässliche Ganztags-Grundschule. Das kann sich nicht einmal das akademikerüberfüllte Heidelberg leisten, denn wir reden hier zwar von einer wesentlich komfortableren finanziellen Situation als in anderen Städten Deutschlands, aber auch hier gibt es genügend Geringverdiener, die, um ihre Familie zu unterhalten, beide Vollzeit arbeiten MÜSSEN.

Ich verstehe nicht, wie man aus einem fadenscheinigen „Zm Wohl des Kindes“-Argument diesen Menschen per Petition das Gefühl geben kann, sie würden als Eltern versagen, weil sie eine Ganztagsbetreuung für ihre Kinder brauchen. Ich verstehe auch die Rückständigkeit deutscher Besserverdienender nicht, die das archaische Familienbild des 60er Jahre-Westdeutschlands heute noch so verinnerlicht haben, dass sie berufstätigen Müttern (die oft nicht einmal eine Wahl haben wie zB ich und andere finanziell Bessergestellte, siehe oben) etwas von Kindern, die doch zuhause am besten aufgehoben sind, erzählen. Ich verstehe und unterstütze jede Mutter, die ihre Kinder so viel wie möglich selbst betreuen und den Kindern maximale Freiheit bei der Freizeitgestaltung ermöglichen möchte. Ich finde das schön! Aber wie wäre es mit ein bisschem mehr Verständnis für Menschen, die dringend (dringend!) auf die Ganztagsbetreuung angewiesen sind? Ich appelliere an alle, hier über den eigenen Tellerrand zu schauen und solche Petitionen nicht zu unterschreiben. Deutschland hatte noch nie so viele Menschen, die von einem Job alleine nicht leben können. Deutschland hatte noch nie so viele Familien knapp oberhalb der Armutsgrenze. Der Ausbau der Ganztagsschulen ermöglicht, dass mehr Menschen sich Stellen suchen können, und bietet Kindern organisierte Freizeitbetreuung an, die ansonsten vor dem Fernseher sitzen würden. (Mal ehrlich, habt Ihr bei Eurer Argumentation daran gedacht, dass die Mehrheit der deutschen Familien nicht überlegen kann, ob das Kind nachmittags zum Reiten oder zum Klavier geht? Da gibt es einen Fernseher, und eine Playstation, und das ist die Nachmittagsbetreuung. Nicht weil die Mutter oder der Vater in der Küche rauchen und saufen, sondern weil Mutter bei der Nachbarin putzt – für ein paar Euro neben der Steuer.)

Der „verpflichtende“ Ganztag sieht bei unserer Schule übrigens so aus: Du sagst den LehrerInnen zu Beginn des Schuljahres, an welchen Nachmittagen Du das Kind selbst betreuen möchtest – fertig. Und dabei muss diese Schule wirklich verpflichtend sein, weil es die einzige Schule ist. Sie nimmt also prioritär Kinder von Eltern, die tatsächlich beide arbeiten. Nach der flächendeckenden Einführung der Ganztagsschulen – zu diesem Zeitpunkt werden unsere Kinder sich aufs Abitur vorbereiten, sofern sie noch in der Schule sind – wird auch dies wesentlich lockerer werden. Ihr werdet alle selbst entscheiden können, wieviel Zeit die Kinder in den Schulen verbringen. Mit Petitionen aber greift man in einen notwendigen Wandel im deutschen Schulsystem ein. Politisch ist dann die Rede von „Bedarfsermittlung“. Wenn der Bedarf durch eine solche (zum Teil auch sehr uninformierte) Gegenwehr verdeckt wird, wird es noch sehr, sehr lange dauern, bis wir in Deutschland eine adäquate Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben. Fragt sich, wie viele Kinder in dieser Zeit dann noch geboren werden, rückständig wie dieses Land ist.

Es tut mir leid, ich wollte deswegen nicht kommentieren, weil es immer sehr harsch klingt, was ich dazu zu sagen habe. Aber ich setze mich jetzt seit zwei Jahren zusammen mit meinem Mann für das Thema ein und halte diese Petition für ein Luxusproblem finanziell besser Gestellter. Und damit – für mich – beschämend. Es beschämt mich. So, ich bin jetzt fertig.

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