Es ist Feierabend. Der Reihe nach trudeln alle Familienmitglieder zu Hause ein. In der emotional überschwänglichen Freude des nachmittäglichen Wiedersehens liegen wir uns glückselig in den Armen. Oder – wenn wir es besonders clever anstellen – sitzen wir dort. So macht es die Tochter zumindest gern. Ich weiß gar nicht genau, wie sie es anstellt. Aber wenn wir uns sehen, kann ich noch schnell bis zehn zählen und zack: sitzt sie auf meinem Arm. Es ist übrigens ein schnelles Zählen.
Das hat jedoch einen ganz fabulösen Nebeneffekt: Der routinemäßige Kontrollblick quer über das ganze Kind ist so angenehm einfach machbar. Auf Augenhöhe sitzt die kleine Dame eh schon. Sie einmal rund um ihre Achse zu drehen ist auch gar kein Problem. Da hat man das ganze Kind einmal TÜV-geprüft, noch ehe sie stolz grinsen kann, weil sie den Herrn Papa schon wieder um den kleinen Finger gewickelt hat. Für gewöhnlich hat letztendlich übrigens nicht nur das Kind seinen kleinen Erfolg, für gewöhnlich stimmt auch das Prüfergebnis.
Für gewöhnlich.
Heute zeigt sie freudestrahlend, aber doch bestimmt auf ihr Knie. Es schmerzt wohl. Auf der Hand sitzt ebenfalls ein Aua. Am Kopf wächst gerade eine Beule. Und zumindest eine Wange ist ebenfalls sportlich zerkratzt. Ich hätte das Kind beinahe nicht wiedererkannt, aber ihr Charme beim Besetzen meines Armes ist zum Glück unverkennbar. Ich nutze die Gunst ihrer guten Laune und frage nach, was denn passiert sei.
Sie druckst herum. Sie guckt mich verlegen an. Sie dreht sich schüchtern weg. Sie möchte jetzt plötzlich lieber runter vom Arm und rauf auf’s Trampolin. Alles weghüpfen. Das ist überhaupt eine sehr fabelhafte Idee: Weghüpfen als Problemlöser. Wenn ein Tag mal etwas suboptimal lief – einfach hüpfen, bis er wieder akzeptabel erscheint. Trampoline sollten von Krankenkassen bezahlt werden, Therapeuten sollten sie in ihren Werkzeugkasten aufnehmen.
Ich lasse natürlich nicht locker. Und stückweise kommen die Informationen aus der Tochter heraus. Sie saß wohl in der Kita irgendwann auf einem dieser Tret-und-Anschubs-Autos. Dann saß sie auf einmal nicht mehr drauf. Sonst sagt sie erst einmal nichts und geht lieber wieder hüpfen. Aber ich bleibe am Ball. Und langsam, aber sicher, tröpfelt es aus ihr heraus. Neben dem Auto und der Fahrerin waren noch ein hohes Tempo, eine ablenkende Schar anderer kleiner Mädels, ein Gartenbankbein und eine abrupte Bremsung mit dabei. Es klingt schmerzhaft. Die Tochter ist jedoch offenbar ganz froh, dass es endlich raus ist. Sie lacht mich noch einmal herzhaft an, dreht sich dann um und läuft los. Ich glaube, sie fängt jetzt munter und motiviert an, den Tisch für das Abendmahl zu decken.
Das Thema ist für sie durch. Abgehakt. Es gibt keinen Grund, die für sie etwas unrühmliche Geschichte noch einmal hervorzukramen. Beim Händewaschen sind wir einfach etwas vorsichtiger als sonst. Und auch den Rest tupfen wir etwas zaghafter ab als für gewöhnlich.
So passt das schon. Und wir haben heute gelernt: Ein Verkehrsunfall ist eine ernste Angelegenheit. Außerdem ist es schwer, zuzugeben, letztendlich tatsächlich Schuld an selbigem gehabt zu haben. Ich kann die anfängliche Verlegenheit der Tochter durchaus verstehen. Am Besten verrate ich ihr somit lieber nicht, wie ich mich da draußen auf der Straße so blamiere.