Hamburg City. Am Morgen vor der Fahrt auf eine der vorgelagerten Inseln. Ich werde berichten, keine Angst. Das ist ein anderes Thema. Heute morgen suche ich erst einmal den Weg zum Boot. Ich verabschiede mich von meinem Übernachtungsgastgeber, er empfiehlt mir eine szenisch sehenswerte Strecke zum Hafen. Nicht einfach die breite Hauptstraße herunterlaufen. Nein, das wäre langweilig. Lieber einen kleinen Umweg machen und die Landungsbrücken entlang flanieren. Das würde sich viel mehr lohnen. Für derlei Tipps bin ich immer empfänglich. Die nehme ich dankend an und mache mich auf den Weg.
Es ist ein diesiger Morgen. Die Boote liegen im Hafen. An der Küste sind die ersten Leute bereits aktiv am Arbeiten. Hier werden Stände aufgebaut. Hüpfburgen entstehen, Versorgungsbuden nehmen Gestalt an. Während ich dastehe und mir die frische Luft ins Gesicht blasen lasse, turnen sie um mich herum in kurzen T-Shirts durch die Gerätschaften. Hier wird ein Hafengeburtstag vorbereitet. Das wird ein Fiasko. Das wird voll. Man erahnt es jetzt schon. Jetzt, am frühen Morgen, deutlich bevor die Massen einfallen.
Ein paar Meter weiter komme ich an einem Bücherstand vorbei. Es ist fast, als ob hier jemand schneller war als alle anderen. Hier muss nichts mehr aufgebaut werden. Hier steht bereits alles. Der Stand hat einen Verkaufstisch. Ein Dach sichert alles gegen eventuelle Wetterunsicherheiten ab. Die Bücher sind sorgfältig aufgereiht. Selbst ein kleiner Plüschbär sitzt in einem kleinen Flechtkorb davor und bewacht die Ware. Sonst ist nämlich niemand zu sehen, der den Job übernehmen würde. Niemand ist da, den man aufmunternd für all den Fleiß des Aufbauens am frühen Morgen beglückwünschen könnte. Der Stand wirkt wie eine ungestörte Idylle im Ozean des morgendlichen Chaos vor einer Großveranstaltung. Die Szene strahlt eine Ruhe aus, welche einen tiefen Eindruck auf mich macht. Ich möchte sie festhalten, ich möchte sie konservieren, ich möchte sie mir aufheben für schlechte Zeiten, in denen die Welt über mir zusammenzubrechen droht. Ich greife in die Hosentasche, um das Telefon für einen Schnappschuss zu zücken. Wenigstens ein kleines Smartphonebild soll bleiben. Irgendwann später, viel, viel später werde ich es wieder hervorziehen und mich mit einem sehnsüchtigen Blick an diesen Moment erinnern. Alle Sorgen werden von mir abfallen. Frieden wird über mich kommen. Ich spüre das schon jetzt, das Telefon beinahe in der Hand haltend.
Da rührt sich etwas. Links im Augenwinkel. Jemand dreht sich um. Es ist einer der beiden Herren, die in der Ecke des Standes auf einer Pritsche liegen, tief und fest schlafend, mit einer Wolldecke über sich, sie teilen diese. Es ist eine alte Wolldecke. Sie hat Flecken drauf. Ein paar Löcher kann ich bei einem flüchtigen Blick entdecken. Sie hat schon einiges mitgemacht. Diese Decke kann sicherlich Geschichten von vielen Volksfestständen erzählen. Ständen, die am Abend aufgebaut wurden, um am nächsten Tag schon in aller Frühe einsatzbereit zu sein. Unter der Decke hervor gucken zwei Köpfe, mehr nicht. Noch unrasiert, die Haare nicht gekämmt, gleichmäßig heben sich zwei Brustkörbe im Rhythmus des Schlafes.
Ich werfe noch einen Blick auf den Plüschbär und lasse das Telefon in die Hosentasche zurück gleiten, noch bevor es wirklich draußen war. Die Szene reicht auch so. Die Erinnerung wird bleiben, ganz von selbst. Wer fotografiert schon gern ein fremdes Schlafzimmer ohne die Bewohner wenigstens vorher um Erlaubnis zu fragen?