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Scharfe Teile

Wer Kinder hat, weiß, dass Verletzungen zu vorher ungeahnten Erlebnissen werden. Denn es ist natürlich erst einmal so, dass man nicht mehr nur die eigenen Wunden erleidet, sondern jene der Kinder gleich mit. Das ist schließlich der eigene Nachwuchs, der in verwundeten Momenten vor den eigenen Augen zugrunde geht. Das kann man nicht unberührt wegstecken. Da spürt man mit, lässt es sich aber selbstverständlich nicht anmerken. Statt dessen pustet man und tröstet bis die Welt wieder in Ordnung ist. Und wenn man selbst mal aus Versehen mit seinem Fuß umknicken sollte, weil er in einer der zahlreichen Baustellen vor Ort überraschend in einem Loch verschwunden ist, so beißt man kurz die Zähne zusammen und erklärt den folgenden Stützverband zum modischen Accessoire. Das ist die Chance, den Kindern ein leuchtendes Vorbild zu sein, wenn es um das graziöse Ertragen der kleinen Hürden auf dem großen Weg des Lebens geht.

Auf der anderen Seite freuen die Kinder sich tatsächlich sogar, wenn sie wieder irgendwoher einen Kratzer mitgebracht haben. Entweder können sie in einem Tonfall der totalen Begeisterung schildern, wie dramatisch der Unfall war, dem sie zum Opfer geworden sind. Man glaubt gar nicht, zu welch großen Ausschmückungen auch recht kleine Kinder bereits fähig sind. Es ist atemberaubend. Außerdem glaubt man gar nicht, wie groß Kinderaugen werden können, wenn sie ein wundervoll kitschig buntes Pflaster bekommen und damit stolz hausieren gehen können. Aus leidvoller Erfahrung gebe ich Ihnen jedoch den Tipp, derartige Pflaster nicht nur mit unterschiedlichen Tiermotiven darauf vorrätig zu haben, sondern möglichst auch mehrere Farben anbieten zu können. Die Kinder werden es danken. Und sei es nur mit erhabener Kreativität beim Aufspüren ihrer eigenen Verletzungen.

So zeigte mir der Sohn kürzlich ganz stolz ein Pflaster an seiner Hand. So, wie es aussah, musste es ihn wirklich stören. Es saß genau zwischen Daumen und Zeigefinger. Wenn sich da eine Wunde entlang zieht, dann ist das unangenehm. Dann kann man einen der beiden Finger meist gar nicht mehr so recht bewegen. Das ist schlimm, wirklich. Ohne Daumen oder Zeigefinger sind die meisten von uns ganz arg aufgeschmissen. Glauben Sie mir das ruhig. Sie müssen es nicht extra ausprobieren.

Nach einer angemessenen Bewunderung seines tollen Pflasters habe ich den Sohn natürlich gefragt, wie er sich da verletzt hat. Das kann schließlich alles mögliche sein. Hat man erst einmal etwas Scharfes in der Hand, rutscht man schnell mal ab und zack: blutet es. Seit kurzem ist er obendrein derjenige hier im Haus, der für das Brotschneiden zuständig ist. Mit dem großen scharfen Messer, versteht sich. Nur kurz denke ich darüber nach, verwerfe die Möglichkeit aber auch gleich wieder. Denn dafür, dass er auf die Art und Weise an seiner Hand gesägt haben sollte, ist die Wunde samt Pflaster viel zu klein. Man freut sich über die kleinen Dinge im Leben. Alltag kann so schön sein. Und wie gesagt: Da ich nicht von selbst drauf komme, frage ich den Sohn einfach, was ihm denn da passiert ist.

Er guckt mich kurz an, er guckt seine Hand kurz an, er sagt für einen Moment erst einmal gar nichts und verrät mir dann in sehr ernstem Ton: Er habe sich an seinen Unterhosen geschnitten.

Das habe ich tatsächlich nicht erwartet. Allerdings: Es sind schon scharfe Teile. Ich hätt’s mir also denken können. Mein Fehler.