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Kenne Deinen Clan

Die Zeiten sind mobil geworden. Damit meine ich jetzt übrigens nicht diese neumodische Masche, bei der wir mit Geräten ins Internet rein gucken, für deren Displaygröße wir uns in den 90ern noch geschämt hätten. Nein, ich meine die Wohnmobilität von uns als Generation der Hochflexiblen, die ihrem Broterwerb in die entlegensten Gegenden hinterher reist, von denen wir vorher manchmal noch nicht mal etwas gehört haben. Da passt man einmal nicht auf, da guckt man ganz kurz mal nicht hin und zack: wohnt man ein paar hundert Kilometer vom Heimatdorf entfernt, in dem man groß geworden ist. Das hätte es früher natürlich nicht gegeben. Früher waren schließlich nicht nur die alten Zeiten besser sondern früher galt es schon als moralisch verwerflich, wenn man auch nur den Nachbarort als mögliche neue Wohngegend in Betracht gezogen hätte.

Aber heute ist nicht früher. Heute sind wir hochflexibel. Da kann’s auch schonmal passieren, dass man sich plötzlich in den Südstaaten wiederfindet. Sachen gibt’s, die hält man selbst kaum für möglich. Wenn man aber eh in der Gegend ist, kann’s passieren, dass man sich mit den Leuten vor Ort unterhält. Das klappt meistens sogar erstaunlich gut. Gelegentlich fällt es aber doch auf, dass man eigentlich gar nicht von hier kommt. Antwortet man ehrlich auf die für gewöhnlich folgende Frage nach der Herkunft, kann’s passieren, dass man als Fischkopp betitelt wird. Das trifft es natürlich nicht so ganz. Aber ich möchte mich hier nicht in Details verlieren.

Wesentlicher ist vielmehr der Umstand, dass die Südstaaten tatsächlich in respektabler Entfernung der alten Heimat liegen. Das bringt die skurrilsten Nebenwirkungen mit sich. So trifft man zum Beispiel manche Mitglieder des Familienclans viel seltener als es noch zu Kindheitstagen der Fall war. Kommt die ganze Bande dann doch mal wieder zusammen, wundert man sich, wer so alles in der Runde mit dabei ist. Einige sind so markant, dass man sie grundsätzlich jederzeit und spontan wiedererkennen würde. Das sind die Einfachen. Einige erkennt man am Besten an der Stimme. Das ist auch noch relativ einfach. Man muss nur aufpassen, dass man ihnen möglichst diplomatisch geschickt den Rücken zudreht, gerade zu Beginn des Ereignisses, ansonsten ist die Stimmung schnell kaputt. Und dann gibt es da noch jene, bei denen man sich nicht so ganz sicher ist. Das beruht dann meist auf Gegenseitigkeit, also ist man besser erstmal betont freundlich zueinander und gibt sich die Hand. Ich empfehle auch sehr, das nachfolgende Getuschel elegant zu überhören, auch wenn aus diesem ein “Kenne ich den etwa?” klar herauszuhören ist.

Für solche unelegant formulierten Unsicherheiten muss man Verständnis haben. Wie gesagt: es geht einem schließlich selbst nicht besser. Man weiß auch nicht so ganz genau, wer die junge Dame nun genau ist. Das macht aber nichts. Das Wiedertreffen hat gerade erst begonnen. Da gibt es bestimmt noch genug Gelegenheiten, die Erkennungslücken wieder zu schließen und sicher zu gehen, dass der Gegenüber auch wirklich zur Familie gehört und nicht einfach ein aus der Ferne zugereister Fremdkörper ist. Bei der Suche nach einer solchen Gelegenheit hilft es zum Beispiel, wenn sich im eigenen Clan Rituale entwickelt haben, welche zumindest die regionale Herkunft recht verlässlich nachweisen lassen. Je unauffälliger solche Rituale sind, desto sicherer ist übrigens der Nachweis, den sie erbringen. Ein recht untrügliches Abstammungsmerkmal meiner alten Heimat ist beispielsweise die Art und Weise, wie jemand den Kuchen zum Kaffee aufschneidet. Wir erinnern uns: da kann man nicht einfach beliebig mit der Kuchengabel herumstochern, da ist viel mehr ein präziser Feinschliff am original Salzwedeler Baumkuchen gefragt:

baumkuchen_nachher

Im aktuellen Test hat die Dame gegenüber übrigens bravourös bestanden.

Was lernen wir daraus? Die richtige Herkunft ist Gold wert. Ich frage mich jetzt nur, womit mich unsere in den Südstaaten geborenen Kinder später mal testen werden. Aber vielleicht gibt’s den Mobilitätstrend bis dahin gar nicht mehr. Und alles ist wie früher.

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