Vorratshaltung
Von Señor Rolando
Die Zeit mit Kindern, sie vergeht im Flug. Wir hatten das hier schon öfters: man guckt einmal kurz nicht hin und zack – können sie etwas Neues, machen etwas ganz Unerwartetes, wissen auf einmal alles besser als man selbst oder wachsen einem schlicht auf eine andere kreative Art über den Kopf. Es ist verrückt und trotzdem kürzlich erst wieder passiert.
Denn früher war hier im Haus die Welt noch in Ordnung und es stand glasklar fest: Süßigkeiten gibt es für die Kinder entweder gar nicht oder nur nach Willkür sorgfältigen elterlichen Überlegungen und Abwägung des pädagogischen Mehrwerts.
Heute ist es auf einmal so, dass sie gemeinhin ausreichend eigene Vorräte haben, die sie regelmäßig auf dem Tisch ausbreiten, um sich an diesem Reichtum zu laben und ihn Stückchen für Stückchen zu dezimieren. Ich weiß gar nicht, wo das ganze Zeug immer herkommt. Ich staune nur, wie clever sie ihre Beschaffungskreativität offenbar bereits perfektioniert haben. Beide hängen des öfteren auf diversen Kindergeburtstagen herum. Für gewöhnlich hübsch getrennt voneinander. So können sie mehr Termine abdecken. Und jedes Mal neue Vorräte von Gummibärchentüten, Schokoladen, Kaubonbons und ähnlichen Kreationen mit nach Hause bringen. An den Tagen dazwischen kommt gelegentlich bei uns Besuch vorbei. Und warum sollte der mit leeren Händen vor der Tür stehen? Ganz genau: das wäre total unsinnig. Also werden die kindlichen Vorräte aufgestockt. Und wenn wirklich mal gar nichts mehr geht, laden sie halt Oma und Opa ein. Diese werden doch wohl hoffentlich nicht ohne kleine Überraschungen auftauchen. Denken sich die Kinder. Und liegen wahrscheinlich nicht immer ganz falsch damit.
All diese Sammelwut und die Vielzahl dieser Versorgungskanäle haben natürlich glasklare Vorteile. So lernen die Kinder zum Beispiel, mit ihren Vorräten verantwortungsvoll umzugehen und sie sich so einzuteilen, dass sie nicht plötzlich ganz ohne dastehen. Das ist eine wichtige Etappe auf ihrem Weg in die Selbständigkeit. Durch eigene Erfahrung lernen sie viel besser, als wenn fortwährend wir Eltern herumrationieren und uns eloquent darüber auslassen würden, wie ungesund das ganze Zeug doch eigentlich ist und ob sie nicht viel lieber an einer frischen Möhre knabbern möchten. Durch ihre eigenen Vorräte haben die Kinder selbst die Kontrolle und wir Eltern unsere Ruhe.
Bis es irgendwann dann doch passiert. Bis irgendwann die Kinder am Tisch sitzen und dezent anfragen, ob sie sich nicht ein paar Süßigkeiten holen dürften. Wogegen wir natürlich nichts haben. Selbständigkeit und so. Natürlich dürfen sie sich etwas holen und am Tisch geschwisterlich gerecht aufteilen. Was beide Kinder auch erfreut und mit positiver Mine zur Kenntnis nehmen. Allerdings ruhig auf ihren Plätzen sitzen bleibend.
Auf meinen fragenden Blick reagieren sie nur mit einem wortkargen Hinweis darauf, dass sie nichts mehr haben sowie mit einem stummen Fingerzeig auf die Schublade, dort drüben, an der Wand, die man kaum noch auf und schon gar nicht wieder zu bekommt, so voll ist sie, diese Süßigkeitenvorratsschublade. Sie zu plündern geht natürlich trotzdem gar nicht. Das ist quasi technisch nicht möglich, erkläre ich den Kindern in einem ruhigen Ton. Schließlich handelt es sich um das Lager für den Herrn Papa. Das ist nicht für Kinder gedacht. Da kann ich leider auch nichts machen.
Sie gucken mich beide an. In diesen Augen, die sonst nur Liebe erkennen lassen, stehen jetzt bloß große Fragezeichen. Nach einer atemlos ruhigen Gedenkminute findet der Sohn seine Stimme wieder und fragt, warum ich trotz so einer Schublade denn nie Süßigkeiten esse.
Tja, gute Frage.
Aber mal ganz unabhängig davon: Wie bekommt man eigentlich Schokolade aus einer Rechnertastatur wieder heraus, wenn sie spätabends ganz mysteriös dort drin gelandet ist, während man selbst hochkonzentriert in der Nachtschicht an irgendwelchen Texten gesessen hat?