Tschüss
Von Señor Rolando
Wir waren im Urlaub. Wer sowas auch schon mal gemacht hat, weiß um ein Dilemma, welches es dabei meist gibt: Er geht zu Ende, der Urlaub. Unweigerlich. Manchmal vorhersehbar, manchmal zumindest gefühlt ganz überraschend. Das kann man bedauern, es wäre sicher verständlich. Oder man kann es einbauen in den Urlaub, quasi ein kleines Erlebnis daraus machen. Oder zumindest eine Routine entwickeln. Diese kann helfen, über das eigentliche Drama hinweg zu kommen.
Bei uns hier sieht das zum Beispiel so aus, dass wir “Tschüss” sagen. Tschüss zum jeweiligen Ort. Tschüss zu besonderen Sehenswürdigkeiten. Tschüss zu Spielplätzen. Tschüss zur ganzen Gegend. Dazu gehen wir kurz bei der jeweiligen Örtlichkeit vorbei, winken, rufen im Chor: Tschüss und ziehen weiter.
So auch dieses Mal. Zumindest laut Plan. Schon am Abend vor der Abreise haben wir die große Strandverabschiedung gemacht. Hin zum Strand, Figuren in den Sand malen, Herumlaufen, laut Tschüss Strand! rufen: Es war eine Zeremonie, es war wie immer, es war Routine, es war nötig, es war gut. Die große Verabschiedung war somit durch. Die Rückfahrt am nächsten Morgen konnte reibungslos starten. Es sind ein paar Stunden Fahrt. Da ist man als organisationsverantwortliche Erziehungsberechtigte froh über jede Vorbereitung, die sich erledigen lässt und abgehakt ist. Am letzten Morgen heißt es dann nur noch: Ready, set, go! Und ab geht die Post. Alles gepackt, alles erledigt, ordentlich Tschüss gesagt. Da ist für die eigentliche Fahrt in die Heimat quasi ein glanzvoller Durchmarsch vorprogrammiert.
Wenn der Sohn nicht einen neuen Liebling vor Ort gefunden hätte: einen alten Anker, der mittlerweile fest an Land liegt und auf dem man prima mit Blick auf das Wasser herumturnen kann. Es ist ein beeindruckendes Stück, das muss ich zugeben.

Prompt verkündet der Sohn beim letzten Frühstück, dass wir uns natürlich auch noch angemessen vom Anker verabschieden müssen. Die Familienrunde schweigt plötzlich. In den Köpfen der Eltern rasselt der Zeitplan für den Tag sichtbar einmal durch. Es sieht nicht gut aus. Eine extra Strandrunde: Das ist nicht eingeplant. Das geht nun wirklich nicht. So etwas dauert. Das zieht sich. Fangen wir damit einmal an, kommen wir garantiert erst am Nachmittag los. Wo soll das nur hinführen? Wir müssen es dem Nachwuchs schonend beibringen, ohne die Stimmung zu verderben. Wir haben einige Stunden harmonischer Autofahrt vor uns. Die möchten wohl behütet bleiben.
“Klar”, sage ich somit. “Wir verabschieden uns auch noch vom Anker.”
Der Sohn wirkt zufrieden. Er nickt kurz und greift beherzt zum Honigglas.
“Wir fahren auf dem Rückweg noch einmal extra vorbei und sagen anständig Tschüss zum Anker. Kein Problem.” ergänze ich. Es ist wichtig, eine klare Position festzulegen, auf die wir uns alle verlassen und später berufen können. Ansonsten ist Streit quasi vorprogrammiert. Und wer möchte schon mit Streit den Urlaub beenden? Eben. Da ist es besser, man klärt die Grenzen kurz ab und alle sind zufrieden.
“Ähh, Moment mal.” sagt plötzlich der Sohn. Er hat sogar das Honigglas wieder hingestellt und guckt mich an. “Nicht nur mit dem Auto vorbeifahren, das Fenster aufmachen und Tschüss rufen. Wir wollen auch aussteigen und auf den Anker klettern.”
Mist, er hat mich durchschaut. Offenbar kennt er die Rhetorik der Familie bereits. Auf derart profane Tricks fällt er nicht mehr herein. Die Sache mit den Grenzen, dem Klarmachen der selbigen und der daraus folgenden Sicherheit hat er vollkommen verstanden. Und sorgt dafür, dass die Regeln gründlich und verlässlich eingehalten werden.
“Wenigstens ganz kurz.” ergänzt er. Ich nicke nur noch stumm. Man muss erkennen, wenn man ein Duell verloren hat.
Tschüss Kontrolle denke ich mir und stelle innerlich fest: Sie werden so schnell groß.