Zur Lesung am Abend vor der Klassenfahrt
Von Señor Rolando
Einmal im Jahr geht’s los. Einmal im Jahr geht’s auf Klassenfahrt. Das war schon in der Schule so. Warum soll das auf einmal aufhören, nur weil man etwas älter geworden ist? Dafür gibt’s überhaupt keinen Grund. Ganz genau. Also suchen wir uns eine neue Klasse und los geht’s. Ab auf die Insel. Helgoland, um genau zu sein. Man will es sich ja auch nicht zu einfach machen. In guter alter Tradition sind wir jetzt schon zum zweiten Mal mit dabei. Da gehört man quasi schon zu den alten Hasen. Immerhin einmal ist man bereits versetzt worden. Eine Klasse wäre geschafft. Ich warte nur noch auf die Zeugnisse. Aber irgendwann kommen die bestimmt auch noch.
Eines weiß man als alter Haudegen auf jeden Fall schon ganz gut: Wer morgens mit dem Boot auf eine Insel fahren möchte, sollte sinnigerweise schon am Abend vorher grob in Hafennähe sein. Also zack, ab nach Hamburg. Hamburg geht ja immer. Da kann man auch schon mal für einen Tag extra hin. Einen kleinen Buchladen in der Langen Reihe plündern, zum Beispiel. Oder schon länger nicht mehr besuchte Spielplätze bespielen. Es gibt wirklich immer was zu tun.
Und wenn die Winde günstig stehen, wenn die Gezeiten richtig mitspielen, wenn die nordischen Geister einem wohlgesonnen sind, dann gibt’s womöglich sogar noch ein passendes Abendprogramm. Eine Lesung zum Beispiel. Eine Lesung geht schließlich ebenfalls immer. Hamburg, Lesungen – irre, was da geht. Das passt wie die Faust auf’s Auge, wenn ich mir so eine profane Analogie mal erlauben darf. Und wenn wir schon von passenden Konstellationen reden, habe ich gleich noch eine: ausgerechnet die beiden Klassenlehrer haben ihren aktuellen Termin von Bonjour Tristesse, Du alte Hackfresse an den Abend vor der Bootsfahrt gelegt. Das trifft sich. Man trifft sich. Wenn man erstmal da ist.
Aber was soll einen schon daran hindern? Was soll schon schiefgehen? Wir sind schließlich rechtzeitig in der Stadt, somit quasi schon da. Da kann man entspannt etwas Essen, die Kinder ins Hotel werfen und sich fix von der Hochbahn zur Lesung bringen lassen. Geht ja schnell. Ich kenne mich schließlich aus. Habe doch nicht umsonst schon mal in dieser Stadt gelebt.
Also raus aus dem Hotel und rein in die Bahn. Wenn auch in die, ähh, falsche Richtung. Ich weiß auch nicht, wie das passiert ist. Habe im Vorfeld sogar extra nochmal online den Fahrplan studiert. Sicher ist sicher. Da muss doch irgendwo jemand etwas falsch ausgewiesen haben. Der Fehler kann unmöglich bei mir liegen. Da bin ich mir ganz sicher. Bis zu dem Moment, als eine Durchsage die Endstation ankündigt. Ohne vorher bei der Lesung vorbei zu kommen, versteht sich. Da ist doch etwas kaputt. Und ich schnappe mir den nächsten greifbaren Hanseaten und schüttel ihn solange durch, bis ausreichend Tipps für eine korrigierte Reiseroute aus ihm heraus purzeln. Das klappt dann auch glatt besser. Nach nur einer halben Stunde komme ich wieder dort vorbei, wo ich ursprünglich losgefahren bin. Wenig später bin ich sogar am Ziel. Den verbleibenden Fußmarsch lasse ich mir sicherheitshalber vom Navi auf dem Telefon anzeigen. Ich bin zwar nicht lernfähig, tue aber wenigstens so.
Und was soll ich sagen? Von vier drei Lesenden habe ich nur eine halb verpasst. Die anderen waren lustig und bedrückend, auf jeden Fall aber unterhaltsam. Und im Publikum saß schon mal fast die gesamte Klasse für den Ausflug am Tag danach.
Aber der ist glatt eine andere Geschichte.