Die Waffe des großen Bruders
Von Señor Rolando
Für alle, die als Einzelkind groß geworden sind oder die mit nur einem Kind im Haushalt leben, verrate ich gern: als Geschwister entwickeln Kinder vollkommen neue und ungeahnte Fähigkeiten. Man kennt das vor allem von den jeweils Jüngeren. Sie haben schließlich ein Positionierungsproblem. Das ältere Kind ist schon seit längerem da. Es hat einen gewissen zeitlichen Vorsprung, wenn es darum geht, Reviere zu besetzen und das Standardverhalten zu bestimmen. Als Zweitgeborenes hat man es da schwerer. Einfach alles nachmachen bringt gar nichts. Man muss seine eigenen Nischen finden, besetzen und ausfüllen. Die Eltern wundern sich dann gern: Während das erste Kind so schön ruhig war, ist das zweite grundsätzlich total aufgedreht. Eins verhält sich eher konservativ regelkonform? Dann mimt das andere den Punk. Musische Kreativität auf der einen Seite? Sportliche Eleganz auf der anderen.
Wenn man das erstmal erkennt und akzeptiert, bringt es Abwechslung ins Haus. Wenn man entspannt genug auf die Dinge schaut, bringt es auch fortwährend neue Aspekte in das Leben als Familie. Wer meint, sich nach dem ersten Kind auszukennen und zu wissen, wie der Hase läuft, täuscht sich gewaltig. Ein Hoch somit auf das zweite Kind! Routine ist für Anfänger. Nur die Abwechslung hält uns jung und frisch.
Interessant wird es jedoch, wenn nicht das jüngere Kind die neuen Moden ins Haus bringt, sondern auf einmal das Ältere anfängt, neue Betätigungsfelder aufzutun. Hier im Haus ist es beispielsweise so, dass der ältere Bruder eher der ruhigere Typ ist, die jüngere Schwester hingegen eine etwas lebendigere Natur zur Schau stellt. Nachdem der Sohn somit ein paar Jahre seine Ruhe hatte und vollkommen ausgeglichen seinen ruhigen Trott ausleben konnte, klappt das jetzt nicht mehr. Auf einmal poltert die junge Dame dazwischen und macht Krach. Das geht so natürlich nicht. Hier ist sein Revier. Das gilt es zu verteidigen.
Man könnte meinen: jetzt wird’s wild. Jetzt wird aufgerüstet und aus einem vormals friedfertigen Kuschelbären wird eine rasende Wildsau. Aber das wäre zu einfach. Das wäre berechenbar. Und für den Sohn würde es heißen, im Geschwisterkampf die Wahl der Waffen der kleinen Lady zu überlassen. Schön dumm, denkt er sich. Da mache ich nicht mit, sagt er sich. Und greift zu ganz hinterhältigen Tricks, denen seine Gegenspielerin garantiert nicht gewachsen ist: Küssen!
Küssen konnte er schon immer gut. Und Küssen kann seine Schwester nicht ausstehen. Geht’s um ein Küsschen hier oder ein Küsschen dort, ist der Sohn immer zur Stelle, die Tochter nimmt Reißaus. Wenn sie etwas macht, was ihm nicht passt, kommt er erstmal an und gibt ihr einen Kuß. Wer das für eine gewaltfreie Strategie zur Konfliktlösung hält, hat noch nie erlebt, wie laut die Tochter bei solchen Gelegenheiten NEIN! schreien und wie schnell sie davon laufen kann.
Passenderweise waren wir vor kurzem mal wieder für ein paar Tage an der See. Zum Boote gucken. Das hat sich hier im Haus schon als Ritual etabliert: regelmäßig ab an die Küste. Regelmäßig auf’s Wasser starren und die vorbeiziehenden Boote zählen. Der Sohn lässt dabei gern sein geballtes Boots-Know-how heraus hängen und klärt alle anderen darüber auf, was genau die einzelnen Boote jeweils auszeichnet. Größe, Form, Farbe, Geschwindigkeit, Verwendungszweck: da gibt es viel zu wissen, da gibt es viel zu erzählen. Und da gibt es klare Favoriten: die Küsschenwache natürlich. Der Sohn erkennt sie schnell und sicher. Schon aus weiter Ferne ist im klar, was da gerade heranschwimmt. Und während er bei jedem dieser Boote losläuft, um alle Familienmitglieder zum Verteilen von Küsschen aufzutreiben, läuft die Tochter ebenfalls: vor dem Bruder davon.
Aus vollkommen neutraler Perspektive betrachtet finde ich, dass sich die Tochter ruhig mal den großen Bruder als Vorbild nehmen könnte. Den Küssenden die Welt! Also wirklich.