Vom Nutzen kultureller Bildung
Von Señor Rolando
Die kulturelle Bildung der Kinder ist ein vielseitig verwendbares Gut. Auf den ersten Blick wirkt vieles aus dem Bereich des kindlichen Kulturgutes naiv, einfach und wenig anspruchsvoll. Aber dieser Schein trügt. Man macht sich gemeinhin keine Vorstellungen, in welchen Momenten ein oberflächlich gesehen einfach strukturiertes Konstrukt seine wahren Stärken elegant ausspielen kann.
Nehmen wir das kindgerechte Liedgut zum Beispiel. Das ist meist tatsächlich recht einfach gestaltet. Es soll schließlich einprägsam ein. Eingängig auch. Andere sagen, dieser unsägliche, quasi grenzdebile Singsang ist schlicht und ergreifend unbarmherzig. Denn er frisst sich rücksichtslos ins Hirn. Man hat wirklich keine Chance. Das ist kein Ohrwurm mehr, das ist eine ausgewachsene Riesenkrake, die einem durch den Kopf mäandert. Einmal reingehört, wird man es nicht wieder los. Das gilt übrigens auch für Kinderohren. Und es gilt vollkommen unabhängig davon, ob es die aktuellen Kita-Hits der Woche sind oder ob wir es mit Dauerläufern der Partykracherszene heranwachsender Kunstliebhaber zu tun haben. Einmal gehört, immer abrufbereit. Einer der aktuellen Favoriten der Tochter im Haus ist übrigens das Lied vom Sankt Martin.
Wie wir ausgerechnet jetzt, im Zeitalter des vorsichtig hervorbrechenden Frühlings zu diesem feinen Herbstklassiker kommen? Nun, da müsste ich wohl bei der kleinen Dame nachfragen. Ich nehme einmal ganz naiv an, dass es ihr im zarten Alter von zwei Jahren noch herzlich gleichgültig ist, welche jahreszeitlichen Konventionen wir Erwachsenen uns für die Stimmungsmacher der nächsten Generation ausdenken. Was ihr hingegen keineswegs gleichgültig ist, sind die Erinnerungen an die Performance, welche zu diesem Stück bei der letzten, damals noch passenden, Gelegenheit in der Kita geboten wurde. Die Aufführung zum heiligen Martin gehört ganz klar zu den Höhepunkten jedes Jahres. Das erkennen auch schon die ganz Kleinen. Dafür reichen auch zwei Jahre Lebenserfahrung. Sankt Martin reitet auf einem hohen Pferd. Sankt Martin reitet außerdem immer schön im Kreis. Davon sollen schließlich alle etwas haben. Also bewegt er sich in spielerischer Eleganz immer um das Lagerfeuer herum, bis auch wirklich das letzte Kind verstanden hat, wer er ist, was er da macht und dass es – vor allem – ganz großartig ist. Alle, die nicht gerade mit offenem Mund staunend dem Ritter hinterher schauen, singen während dessen das passende Lied vom Ritter, dem Armen, dem Mantel und dem Teilen.
In der Kita bedürfen Feste wie jene des heiligen Martins natürlich einer gründlichen Vorbereitung. Der Ablauf soll sich schließlich einprägen. Bei allen. Vor allem bei den Kindern. Also singen sie, reiten sie, laufen sie im Kreis. Wiederholt. Des Öfteren. Bis es wirklich sitzt. Bis man jedes der Kinder mitten in der Nacht wecken könnte, kurz die Melodie summen würde und zack – steht jemand auf, läuft im Kreis und singt begeistert mit.
Das ist durchaus hohe Kunst. So bedingungslos begeisterungsfähig sind wir in späteren Jahren meist nicht mehr. Es ist ein Verlust. Denn die Leidenschaft der Tochter ist so umfassend, dass wir auch heute, Monate nach dem eigentlichen Fest, noch direkt davon profitieren können. Die einstudierten Abläufe hat sie immer noch abrufbereit. Und auch, wenn wir sie nur sehr selten mitten in der Nacht wecken, so gibt es doch andere Gelegenheiten, das Erlernte anzuwenden. Zum Beispiel dann, wenn die Tochter am helllichten Tag aus einer spontanen Laune heraus beschließt, es nicht zu akzeptieren, wenn irgendjemand einen ihrer großzügig verteilten Befehle mal nicht direkt befolgt. Als kleiner Imperator im Haus lässt sie uns das nämlich keineswegs immer durchgehen. Wenn das Personal nicht spurt, ist die Prinzessin durchaus pikiert. Das äußert sich dann – vollkommen altersgerecht, versteht sich – zum Beispiel durch dramatisch inszenierte Protestattacken, bei welchen sie sich auf dem Boden liegend um die eigene Achse dreht und mit den Fäusten fleißig jene Krümel platt klopft, welche sie vorher beim Essen vom Tisch hat fallen lassen.
In den seltenen Fällen, dass wir Eltern uns das einmal nicht weiter ansehen wollen, gibt es einen ganz einfachen Ausweg: Wir stellen uns einfach um die Tochter herum auf und fangen an zu singen. Sankt Martin, Sankt Martin! – viel mehr braucht es nicht. Die Tochter ist schließlich nicht dumm. Sie erkennt schnell. Also steht sie auf, läuft mit im Kreis, strahlt bis über beide Ohren und singt aus voller Kehle mit: Sankt Martin! Sankt Martin!
Wer hätte gedacht, dass Kinderdressur, ähh, -erziehung so einfach sein kann?