Natürliche Schönheit
Von Señor Rolando
Traditionen sind ein schwieriges Geschäft. Es gibt sie schon seit langem. Man erlebt sie immer wieder. Manche gibt’s glatt jedes Jahr. Das reicht, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Es liegt aber normalerweise auch genug Zeit zwischen ihnen, so dass sie nicht gleich anfangen zu nerven.
Weihnachten ist zum Beispiel ein gern genommener Anlass. Da gibt’s Traditionen im Überfluss. Wenn man genau hinguckt, sind’s gar so viele, dass man das Ganze tatsächlich nicht viel öfter als einmal pro Jahr verkraften würde. Geschenke, Kirche, Gänsebraten. Jährlich grüßt das Murmeltier.
Da gibt’s zum Beispiel den Baum. Ins Haus geholt für ein paar Tage, vielleicht Wochen, soll er Frieden stiften und sinnliche Ruhe bescheren. Er bringt die Natur ins Haus, etwas grün in die Bude. Das wussten schon die alten Römer zu schätzen und begannen wohl als erste, sich etwas winterlichen Baumschmuck in den Raum zu hängen und für Flair zu sorgen.
Seit einiger Zeit darf das Grün nicht mehr einfach nur grün sein. Der Baum ist nicht mehr einfach nur Baum. Er ist vielmehr zur Garderobe geworden. Schmuck nimmt er jetzt auf, um seine dekorativen Stärken noch besser ausspielen zu können. Viele nehmen dabei wirklich alles auf sich, um die jährliche Charme-Offensive des Wohnzimmergewächses zu neuen Rekorden zu führen. Schon lange läuft man nicht mehr einfach nur in den Wald und knickt die erstbeste Tanne um, von der einen der Förster nicht fernhalten kann. Nein, die Baumbeschaffung ist eine ernste Angelegenheiten. Die Adressen der besten und verlässlichsten örtlichen Dealer werden unter Freunden gehandelt, wie es früher nur mit seltenen Briefmarken der Fall war. Vom anschließenden Schmücken möchte ich lieber gar nicht erst reden. In vielen Haushalten sind ganze Schatzkammern gefüllt mit dem familiären Weihnachtsbaumgehänge, meist über Generationen vererbt. Diese Schätze wollen gewürdigt werden. Wenigstens einmal im Jahr möchten sie Tageslicht sehen. Sie wollen raus aus dem Karton, ihre Bestimmung erfüllen: ran an den Baum. Wer auch nur halbwegs konsequent versucht, dem gerecht zu werden, wird am Ende feststellen, dass wenig bleibt vom ursprünglichen Grün. Dafür erstrahlt am Ende alles in einem grandiosen Überschwang von Glanz, Glas, Gold und Gloria.
Das ist auch dem Sohn nicht entgangen. Und nach getaner Schmückarbeit hielt er heute kurz inne, nahm eine kleine Auszeit vom allgemeinen Feiertagsgetöse, besah sich den häuslichen Weihnachtsbaum von unten bis oben und stellte fest: So schön war der Baum noch nie!
Ein Diplomatenkind.