Hinter den sieben Bergen
Von Señor Rolando
Die lokale Beamtenwahl des Tages erfordert nicht unbedingt eine persönliche Anwesenheit. Lohnt sich schlicht nicht. Wir hatten das ja schon. Also beschließt der Familienrat: Kommt, wir fahren in die Berge und sind die sieben Zwerge.
Gesagt, getan. Zack, unterwegs. Und ab auf eine Burg. Ritter gibt’s gerade nicht zu bestaunen. Also spielen wir Männer, die auf Schafe starren. Einen Esel gibt es auch. Eine Kuh obendrein. Wen wundert’s, dass jemand drum herum einen Weihnachtsmarkt arrangiert hat? Man muss ja auch mal praktisch denken. Ich habe da Respekt und nachdem der Sohn als gebürtiger Städter alle anwesenden Tiere korrekt erkannt hat, gibt’s erstmal eine zünftige Bratwurst. Das zugehörige Tier ist zum Glück nicht auf dem Markt. Die Darsteller der alten Weihnachtsgeschichte hat damals jemand geschickt gewählt. Danke dafür. Das muss man nach all den Jahren doch auch mal sagen.
Mit vollem Magen brechen wir auf und ziehen weiter. Rein in den Wald. Zur Hütte, hinter die Berge, schließlich sind wir die Zwerge. In die Natur gehen wir rein, gemütlich soll’s dort sein, die Luft auch ganz fein.
Aber im Ernst: Man muss sich auch einfach mal zurück ziehen können. Raus in die Natur. Gern mit Strom, durchaus aber ohne Netz. Keine Balken, keine Sorgen. Ich denke, vor allem der dauerhaft-online-Teil unter uns versteht, was das bedeuten kann. Totale Ruhe. Keine Ablenkung. Die totale Besinnung auf das, was wirklich zählt. Nur gut, dass es sie wirklich noch gibt, diese Gegenden, in denen man eins wird mit der Natur. In denen man aus dem Fenster guckt, um etwas Aufregendes zu sehen und nicht etwa auf irgendein Display. Hier zu sein bedeutet, sich auf seine Instinkte zu besinnen und sein Wissen über die elementaren Naturgesetze endlich wieder anwenden zu können. Hier draußen kann auch der moderne Mann von heute noch zeigen, dass er versteht, was die Welt zusammenhält.
Also tun wir, was man in der Natur so tut. Wir stehen im Wald. Wir deuten Spuren am Boden. Suchen nach Vögeln am Himmeln. Bewerten den Zustand der Bäume. Lauschen dem Klang der Weite. Bewundern die Ruhe. Der Sohn steht da und staunt. Er stellt viele Fragen. Ich erkläre alles, oder zumindest vieles, oder sagen wir: einen Teil. Ich deligiere den Rest. Es sind schließlich Freunde dabei, die kennen die Gegend. Heimvorteil. Den kann man ruhig mal zugestehen.
Am nächsten Morgen dann das: Draußen ist alles weiß. Als erfahrener Städter kennt man das. Alles nur Rauhreif. Machen wir uns mal nichts vor. Das haben wir oft genug gesehen. Alles weiß, manche reden da gleich von Schnee. Man denkt sofort an den Weltuntergang, der logischerweise unmittelbar kommen muss. Es ist schließlich kalt. Aber letztlich ist das Drama doch weit weniger ernst, als man es je erahnen konnte. Das gilt insbesondere hier draußen, im Wald, in den Bergen. Schnee, also wirklich. Wo soll der denn überhaupt herkommen? So sieht einfach nur die morgendliche Natur aus. Es war nachts, es war kalt, es gibt Rauhreif. Das ist einfach, das ist klar, das ist logisch. Trinken wir erstmal eine Tasse Kaffe, danach ist die Welt wieder in Ordnung.
Ich schnappe mir den Sohn, wir gehen vor die Tür. Die frische Luft genießen, wofür sind wir schließlich so früh aufgestanden? Also Tür auf und raus. Ab in den Wald. Spuren suchen. Wer weiß? Vielleicht kann ich dem Sohn ein wildes Tier zeigen, irgendwo in der Ferne. Wenn wir schon mal hier sind. Das ist quasi eine einmalige Chance.
Aber soweit komme ich gar nicht. Denn als ich mich umdrehe, um zu gucken, wo der Nachwuchs eigentlich bleibt, erwischt mich eiskalt und unerwartet ein dicker Schneeball am Kopf. Der Sohn steht da, ruft: Treffer! und lacht ganz stolz.
Jetzt mal so unter uns: Ich hatte wirklich keine Chance. Denn der Wetterbericht, den ich vor der Abreise extra noch einmal online geprüft habe, der hat gar keinen Schnee vorhergesagt. Den hätte es von Rechts wegen also gar nicht geben dürfen.