Rechenschieber
Von Señor Rolando
Eine Familie zu haben heißt, einen geregelten Tagesablauf zu haben. Das geht früh am Morgen schon los. Nach der täglichen Rangelei im Bad sitzen wir relativ zügig am Frühstückstisch. Die Tochter trinkt Milch, der Sohn und ich: wir essen Müsli. Es ist wirklich jeden Tag das Gleiche. Da steckt so viel Routine drin, es könnte glatt langweilig werden.
Das sieht der Sohn wohl ähnlich so und zählt beim Essen erst einmal das Obst auf dem Tisch durch. Ein paar Äpfel liegen da vor ihm herum. Der Sohn stellt fest: Papa, das sind ja acht Äpfel!
Ich: Stimmt. Ist das etwas Gutes?
Sohn: Ja! Guck mal Papa: Ich werde doch bald fünf und die Schwester wird drei. Er zählt noch einmal und bestätigt sich selbst: Acht Äpfel! Passend schiebt er sich das Obst dabei zurecht:
Die Rechnung geht auf. Wir zählen gemeinsam noch ein paar Mal durch. Sicher ist sicher. Er ist bald fünf, die Schwester wird irgendwann drei. Passt alles.
Sohn: Aber jetzt bin ich noch vier, ja?
Ich: Korrekt.
Also schiebt er noch ein wenig herum:
Tja, jetzt stimmt’s für ihn. Aber für die Tochter nicht mehr. Also: gar nicht mehr. Das aktuelle Alter kommt nicht hin und nach dem nächsten Geburtstag wird’s immer noch nicht zu den Äpfeln passen. Der gesamte Nachwuchs guckt erst mal ganz betreten. Ich wechsle das Thema. Einer muss schließlich aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt. Ich trage hier Verantwortung. Die Routine am Morgen darf nicht gestört werden. Wir wollen schließlich friedlich zu Ende frühstücken, die Basis für den Tag legen, routiniert die Energie tanken, von der wir in den nächsten Stunden zehren werden. Da kann nicht einfach ein unglücklich liegender Apfel alles kaputt machen. Nicht so lange ich meine Füße zu denen der Kinder unter den Tisch stelle. Oder so.
Nachdem wir Jungs alles Müsli weggelöffelt und die Tochter ihren Milchtrog geleert hat, räumen wir ab. Wie jeden Morgen. Routine und so. Nur eines ist anders heute: Kurz bevor wir aus der Küche traben, dreht sich die Tochter noch einmal um, geht zum Tisch, stellt sich auf ihre Zehenspitzen und greift sich einen Apfel. Sie beißt einmal kurz rein und legt ihn dann auf den Tisch, jedoch nicht zu den anderen. Sie guckt den Sohn und mich kurz an, nickt anerkennend ob ihrer cleveren Idee und stiefelt davon. Der Sohn dreht sich um, guckt auf den Tisch und stellt fest: Jetzt stimmt’s wieder besser.
Und jetzt mal ehrlich: Wer von uns Oberchecker-Erwachsenen kann heute noch intuitiv mit einem Rechenschieber umgehen? Eben – die Jugend hat uns selbst bei der Technik von gestern schon routiniert etwas voraus.