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Das Verhandlungskonzept

Es gibt wenig geschenkt im Leben. Überall regieren die Egozentriker. Wer in diesem Umfeld auch mal etwas abbekommen möchte, muss knallhart verhandeln können. Ohne grundfestem Expertenwissen über das Harvard-Konzept ist man quasi nicht mehr überlebensfähig. Es reicht nicht mehr aus, eine eigene Meinung und einen Willen zu haben. Wenn man sie nicht in Kompromissen gegenüber den Mitmenschen durchsetzen kann, sind beide vollkommen wertlos. Es ist schlimm. Ein Glück nur, dass wenigstens die Kinder von dieser grausamen Realität verschont aufwachsen können. Friedlich im Schoß der Familie werden sie groß. Sie dürfen nicht nur Wünsche haben, sondern bekommen diese erfüllt, bevor sie auch nur ansatzweise zu Ende gedacht oder gar fertig ausformuliert sind.

So in etwa läuft das zumindest mit den Eltern. Bei der kleinen Schwester beziehungsweise dem großen Bruder müssen sie jedoch selbst ran. Da ist knallhartes Verhandlungsgeschick angesagt, wenn sie vom jeweiligen Gegenüber etwas wollen.

Man kann die sich hierbei entwickelnden Strategien sehr gut beim Sohn beobachten. Er ist der große Bruder. Er hat das Sagen. Das ist ganz natürlich so. Wer soll die kleine Schwester erziehen, wenn er es nicht macht? Er trägt eine große Verantwortung. Und er weiß das auch, er stellt sich dieser.

Zum Beispiel am Abend, wenn es darum geht, das Kinderzimmer aufzuräumen, damit er anschließend ruhig dort schlafen kann. Was dabei stört, sind unter anderem herumliegende Bücher. Die müssen weg. Es gibt auch einen vorgesehenen Platz dafür. Gemeinsam räumen die Kinder die Bücher dort hin. Es ist ein Traum, ihnen dabei zuzusehen. Harmonie pur. Bis sich die Tochter entschließt, doch noch ein Buch mit ins Bett zu nehmen. Sie kann sonst nicht einschlafen, meint sie. Der Sohn bekommt Panik und macht große Augen.

Aber nur ein Buch! sagt er und wehrt hier den Anfängen. Wenn es erst einmal damit losgeht, dass die Bücher in das Bett der Schwester wandern, dann sind bald keine mehr für ihn da. Er kennt die kleine Dame.

Nur ein Buch! wiederholt er noch einmal mit Nachdruck. Keine zwei Bücher!

Hier weiß jemand, was er will. Hier verteidigt jemand sein Revier. Hier sieht jemand, wie sein Gegenüber anfängt, sich die Arme voll zu laden. Zwei Bücher hat die Tochter sich heraus gesucht. Die sollen es sein. Die will sie haben. Der Sohn sieht seine Autorität untergraben. Man sieht ganz klar, wie er überlegt, mit welcher Methode er jetzt in die Verhandlungen geht. Ganz klar hat er doch gesagt, was erlaubt ist und was nicht. Zur Sicherheit wiederholt er seine Forderung noch mal: Nur ein Buch! Hörst Du? Nur ein Buch. Nicht zwei Bücher!

Das ist eine klare Ansage. Das versteht auch die Schwester. Sie wirft einen Blick auf ihre Beute. Zählt durch. Stellt fest, dass es genau zwei Bücher sind. Sie dreht um und geht zurück zum Bücherregal. Ganz offensichtlich hat sie verstanden, was der Bruder gesagt hat. Er ist der große Bruder. Davor hat sie Respekt. Auf ihn muss man hören. Ordnung muss sein. Der Sohn sieht’s. Er guckt zufrieden.

Die Tochter steht vor dem Regal. Nur zur Sicherheit, eher beiläufig wiederholt der Sohn noch einmal seine Verhandlungsposition.: Keine zwei Bücher! Sie kramt währenddessen und hat plötzlich drei Bücher in den Händen. Ganz stolz ihr Blick, die Bücher sind nicht klein. Nur mit Mühen kann sie diese halten, keine Miene verzieht sie dabei.

Der Sohn macht jedoch immer größere Augen und wiederholt mit Nachdruck: Nur ein Buch! Dann überlegt er kurz. Und sagt: Oder drei. Vielleicht: vier. Aber nicht zwei Bücher!

Die Tochter guckt ihn kurz an, nickt beiläufig und stapft mit drei großen Büchern unter dem Arm los zu ihrem Bett.

Keine zwei Bücher, sagt der Sohn und guckt zufrieden ob seines Erziehungserfolges.

Dieses Verhandlungsgeschick ist beachtlich. Als Erziehungsberechtigter sitze ich nur staunend daneben und lerne gerade: Wenn man seine Ziele genau kennt und benennen kann, dann hat man auch in den härtesten Verhandlungssituationen immer die Oberhand. Ganz ohne faule Kompromisse.

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