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Bruder!

Was eignet sich eigentlich als erstes Wort am Morgen? So ganz generell? Es muss gar nicht das Eigene sein. Sondern einfach nur eines, mit dem sich der Tag gut starten lässt, etwas Frohes, Lebensbejahendes. Etwas, wofür es sich lohnt, auch den Rest des Tages auf zu bleiben und sich nicht gleich wieder frustriert hinzulegen. Was immer es also ist, dieses erste Wort des Tages, es will wohl überlegt sein. Das kann man nicht leichtfertig in den Raum werfen. Das ist quasi Kunst.

Ich bin mir sehr sicher, dass es in den meisten Familien jemanden gibt, der allmorgendlich für diese Tageseröffnungsrede zuständig ist. Jemand, der das Ritual mit Routine beherrscht und eine glamouröse Eleganz beim Festlegen der stilvollen Basis für den Tag walten lässt. Hier ist das zumindest so. Hier macht es die Tochter. Sie steht als erstes auf, also darf sie auch das erste Wort haben. Einfache Regel. Klare Regel. Versteht jeder, die Regel. Die Tochter nutzt die Regel. Und sagt: Bruder!

Ja, Bruder! Mit Ausrufezeichen. Das muss so bei ihr. Normale Satzzeichen kann sie nicht wirklich. Ich weiß gar nicht mehr, ob das normal ist bei Zweijährigen. Meine Erinnerung sagt etwas anderes. Aber das bilde ich mir garantiert nur ein. Die Tochter wiederholt auf jeden Fall noch einmal ihre Morgenandacht, sagt laut, klar und deutlich: Bruder! Und will trotzdem ersteinmal ins Bad. Um sich dort nach ihrem geliebten Lebensabschnittsgefährten umzusehen. Welcher natürlich nicht da ist. Sie guckt sich um, sie fragt: Bruder? Sie guckt mich an und sagt: Bruder! Sie zeigt auf die Tür und stiefelt nach draußen, geht zu seinem Zimmer, streckt sich, um zu testen, ob sie vielleicht heute endlich an die Türklinke heran kommt. Sie kommt nicht, grummelt beim Strecken aber Bruder! vor sich hin. Irgendwann gibt sie auf und setzt sich hin. Mit dem Rücken zur Tür, leicht an diese gelehnt, den Kopf in den Händen, die Hände auf den Knien, ihre Stimme wird weicher, melodisch fast. Sie singt: Bruder! Mein Bruder! Hinter der Tür rührt sich nichts, da schläft jemand tief. Die Tochter geht zurück ins Bad, lässt sich von mir ihre Zahnbürste geben, macht es sich auf dem kleinen Hocker bequem und fängt an zu putzen. Das ist für gewöhnlich der Moment, in dem es von draußen auf einmal doch an die Badtür klopft. Bruder! höre ich die kleine Dame säuseln. Irgendwann hört das Klopfen auf und er kommt rein, grinst ob seines genialen morgendlichen Türstreiches, torkelt aber ansonsten recht schlaftrunken erst einmal auf die Toilette. Dort erfindet er spontan neues Liedgut und wird dabei munter. Irgendwann reicht es und ich erlöse ihn von seinem Thron. Diese ständig wiederkehrenden Rituale: nur gut, dass man sie nicht täglich erneut hinterfragt. Verrückt würde man werden. Jetzt stelle ich nur fest, dass auch der Sohn offenbar Zähne putzen will. Sehr löblich. Doch während ich mich im ersten Moment noch stolz über diese wohlerzogenen Kinder freue, höre ich im nächsten lautes Geschrei. Das kommt – ganz klar – daher, dass der Sohn die kleine Schwester von seinem Hocker geschubst hat, um es sich selbst dort bequem zu machen. Wie soll er denn schließlich sonst in Ruhe die Zahnbürste schwingen? Eben. Die Tochter liegt jedoch recht ungläubig daneben auf dem Boden. Guckt dann hoch und sagt ermahnend: Bruder! Was folgt, ist ein kleines Handgemenge, bei dem es darum geht, ob der Platz auf dem Hocker für beide reicht oder nicht. Er tut es nicht. Und die Schlacht endet wie immer damit, dass ich beherzt in das Knäuel von Armen, Beinen und Zahnbürsten greife, um die Tochter heraus zu fischen. Ich setze sie auf ihren Wickeltisch und lasse sie dort weiterputzen. Der Sohn kann es sich nicht verkneifen, uns ein klares Das ist mein Hocker! hinterher zu werfen. Die Tochter guckt ihn leicht ungläubig an und reibt sich einen Arm, von dem ich hoffe, dass er keine blauen Flecken wachsen lässt. Sie guckt schließlich mich an, zeigt mit einem Finger dezent in Richtung des wieder einmal ungeschlagenen morgendlichen Endgegners und sagt im sanftesten ihr möglichen Tonfall: Bruder! Mein Bruder!

Geschwisterliebe. Was muss sie schön sein.

5 Antworten auf „Bruder!“

Ähnlich großartiges Zahnputzritual bei uns!
Auch mit zu kleinem Hocker und der Waschmaschine als Ausweichmöglichkeit; nur, dass bei uns auch noch um die Zahnbürste gerangelt wird.

Ach wir sind da großzügig und haben einfach jedem Kind eine eigene Zahnbürste spendiert.

Aber über den Spaß mit der geteilten Zahnpastatube können wir gern auch mal reden.

[…] Kinder dort ausgeheckt haben. Auf Nachfragen zeigt die Tochter nur auf den kleinen Mann und sagt: Bruder! Dieser wiederum sitzt einfach ruhig da, guckt raus auf die See und zuckt unschuldig mit den […]

[…] haben heißt, einen geregelten Tagesablauf zu haben. Das geht früh am Morgen schon los. Nach der täglichen Rangelei im Bad sitzen wir relativ zügig am Frühstückstisch. Die Tochter trinkt Milch, der Sohn und ich: wir […]

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