Kalt
Von Señor Rolando
Man ahnt ja nichts. Schon gar nicht am frühen Morgen. Da wird man einfach nur wach, steht auf, stubst eine Weile an den Kindern herum, damit diese sich auch irgendwann hoch bequemen. Man putzt sich gegenseitig die Zähne, tauscht so lange an den Klamotten herum, bis jeder etwas passendes angezogen hat. Man wirft die Kaffeemaschine an und das Müsli in die Schale. Und irgendwann rollt man auch die Jalousinen vor den Fenstern hoch. Hilft ja alles nichts, Leugnen ist da zwecklos, früher oder später muss man eh raus. Da kann man ruhig schon mal nachgucken, ob die groben Koordinaten der Außenwelt noch stimmen oder ob man zwischendurch so eine Art Weltuntergang verschlafen hat.
Und was soll ich sagen? Man hat.
Da liegt Schnee. Ganz weiß. Ganz frisch. Ganz viel. Ganze drei Paar Augen gucken da raus. Zwei sehen Schneeglück, einer sieht ein Drama.
Wer Kinder hat und seine morgendliche Routine liebt, der mag keinen Schnee. Keinen plötzlich eintreffenden zumindest. Man stelle sich nur mal vor, wie man bei so einem gefrorenen Durcheinander die Kinder gepflegt in die Kita bekommen soll. Schnee! Unter allen Übeln dieser Welt gibt es wohl wenige mit mehr Potenzial, die Relativität der Zeit neu unter Beweis zu stellen. Allein dreißig Sekunden Weg zum Auto können an Tagen wie diesem locker zu Stunden werden. Nicht auszumalen.
Also ziehe ich die Kinder zurück in fensterärmere Teile der Wohnung und überlasse sie dem Rest der auch sonst üblichen Morgenroutine. Routine hilft, spontanen Ablenkungsmanövern nicht zu erliegen, denke ich mir. Und liege goldrichtig. Denn die dreißig Sekunden Weg zum Gefährt werden glatt zwanzig. Es ist schließlich kalt. Von vier großen, strahlenden Augen abgesehen, gab’s nur eine kurze Zwischenfrage.
Sohn: Heute ist ein Tag zum Schneeman bauen, ja?
Ich: Ja, klar.
Und schon sitzen wir im Gefährt und diskutieren die Musikauswahl anstelle meteorologischer Überraschungsgäste. Auch der Rest des Tages verläuft routiniert. Und letztlich ist der einzige Schneemann des Tages der Sohn selbst, der am Ende des Tages mit einer Handvoll Eisschnee vor der Tür steht und auf die fragenden Blicke nur nüchtern antwortet: Das ist Eis. Für’s Bier. Damit’s nicht warm wird.
Morgens noch einen Schneemann bauen wollen, am Abend dann das Bier kalt stellen: der Sohn hat offenbar verstanden, worauf es im Leben ankommt.